Hintergrund
Die Debatte zum sozialen Pflichtjahr wird bereits seit mehreren Jahren geführt und immer wieder von verschiedenen Politikerinnen und Politikern angestoßen. Dieses Jahr sprach sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für ein solches Pflichtjahr aus. Dabei geht es ihm vor allem um den gesellschaftlichen Zusammenhalt: “Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein.” Während der Vorschlag auf Regierungsseite und auch bei Sozialverbänden auf wenig Gegenliebe stößt, sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Opaschowski Instituts für Zukunftsforschung 66 Prozent der deutschen Bevölkerung für ein soziales Pflichtjahr aus. Vor zwei Jahren waren es nur 37 Prozent. Unter den Befragten im Alter von 14 bis 24 Jahren stieg der Anteil der Befürworter von 22 auf 59 Prozent und verdreifachte sich damit beinahe. In diesem Hausparlament soll die gesellschaftliche Debatte um das soziale Pflichtjahr anhand von drei Fragen aufgegriffen werden.
Teilfragen
1. Sollte sich der Staat in die Lebensplanung von jungen Menschen nach der Schule einmischen dürfen?
Hintergrund: In Deutschland gilt eine Schulpflicht. 12 Jahre lang ist das Leben von Kindern bzw. Jugendlichen bereits staatlich geregelt. Ein sozialer Pflichtdienst würde diese Zeitspanne zusätzlich verlängern.
Pro
Viele junge Erwachsene sind mit der Gestaltung ihrer Zukunft überfordert, weil sie zahlreiche Möglichkeiten haben. Ein soziales Pflichtjahr würde da eine Orientierung bieten.
Der Staat mischt sich in viele Bereiche des menschlichen Lebens ein. Warum sollte er das nicht tun, wenn es sinnvoll ist?
Der soziale und charakterbildende Aspekt des Pflichtdienstes ist höher zu bewerten als die individuelle Freiheit von jungen Menschen.
Contra
Junge Menschen sind in der Lage, selbst zu entscheiden, was sie nach der Schule machen wollen.
Ein sozialer Pflichtdienst wäre “Zwangsarbeit”.
Ein sozialer Pflichtdienst hält junge Menschen davon ab, ihre eigenen Karriereziele zu verfolgen.
2. Würden soziale Berufe für junge Menschen durch ein Pflichtjahr attraktiver werden?
Hintergrund: Vor allem in sozialen Berufen herrscht seit Jahren ein Fachkräftemangel. Zwischen Juli 2021 und Juli 2022 konnten in diesem Bereich mehr als 20.000 Stellen nicht besetzt werden. Durch ein soziales Pflichtjahr würden mehr junge Menschen einen Einblick in verschiedene soziale Berufe erhalten.
Pro
Ein Einblick in soziale Berufe könnte diese jungen Menschen näherbringen und unentdecktes Interesse fördern.
Durch einen sozialen Pflichtdienst würden bessere Rahmenbedingungen in den sozialen Berufen geschaffen werden, weil sie mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Der Einblick in soziale Berufe durch den Pflichtdienst fördert die Sichtbarkeit der Arbeitsleistung der Menschen, die in diesen arbeiten. So würde das Prestige sozialer Berufe gesteigert werden.
Contra
Soziale Berufe sind nicht attraktiv, weil keine guten Arbeitsbedingungen herrschen. Das muss geändert werden. Ein Pflichtdienst hilft da nicht.
Junge Menschen könnten durch einen Pflichtdienst von sozialen Berufen abgeschreckt werden, wenn sie sehen, wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind.
Wenn junge Menschen als billige Arbeitskräfte/Lückenfüller soziale Berufe ausüben müssen, macht es diese nicht attraktiver.
3. Fördert ein sozialer Pflichtdienst den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Hintergrund: Die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst seit vielen Jahren. Dies lässt sich an einigen Indikatoren festmachen: In fast keinem anderen westlichen Land hängt der Bildungsgrad der Eltern so stark mit dem Schulabschluss des Kindes zusammen wie hier. Der soziale Aufstieg ist dementsprechend sehr schwer. Außerdem hat Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa. Jede 5. Person arbeitet zu Stundenlöhnen, die so gerade zum Überleben reichen. 40 Prozent der deutschen Bevölkerung haben keine Ersparnisse oder nur wenig Rücklagen. Eine kaputte Waschmaschine wird somit zum existenziellen Problem. Die Pandemie hat diese Tendenz nochmal verstärkt. Diese Polarisierung ist enorm schädlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und lässt sie auseinanderdriften. So haben Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten immer weniger Berührungspunkte. Ein sozialer Pflichtdienst, den alle jungen Menschen absolvieren müssen, egal woher sie kommen, soll dieser Entwicklung entgegenwirken.
Pro
Durch einen sozialen Pflichtdienst würde man Menschen treffen, die man sonst nicht getroffen hätte.
Der Kontakt zu Menschen außerhalb der eigenen Blase fördert die Toleranz gegenüber anderen.
Ein sozialer Pflichtdienst fördert die eigene Reflektionsfähigkeit.
Contra
Ein Pflichtdienst, der junge Menschen zwingt, die verfehlte Politik der letzten Jahrzehnte auszubügeln, verschärft gesellschaftliche Polarisierung.
Ein sozialer Pflichtdienst macht eine Person nicht per se zu einem empathischeren Menschen.
Soziales Engagement kann sich nur positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken, wenn es freiwillig ist.
Quellen
- www.tagesschau.de/inland/steinmeier-sozialer-pflichtdienst-101.html
- www.mopo.de/hamburg/umfrage-zwei-drittel-der-deutschen-befuerworten-soziales-pflichtjahr/
- www.tagesschau.de/wirtschaft/iw-fachkraeftemangel-sozialarbeit-luecke-101.html
- www.zeit.de/wirtschaft/2022-06/soziales-pflichtjahr-pflichtdienst-frank-walter-steinmeier
- youtu.be/tei-epjESiA
- youtu.be/GN2lDWybilg
- youtu.be/qQV5SD18lQ4